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Zwei Weckrufe

10. Oktober 2024 – Am 7. Oktober war der Jahrestag des grausamen Terrorangriffs der Hamas auf ein Musikfestival in Israel. Unzählige Menschen wurden ermordet, verschleppt und sind teils bis heute gefangen gehalten. Ein Ende des Krieges in Nahost liegt in weiter Ferne. Im Gegenteil, er zieht immer weitere Kreise: Israel, Ghazastreifen, Libanon, Iran – die Eskalation geht unaufhaltsam vorwärts. Tagtäglich müssen wir zu bester Sendezeit verfolgen, wie Menschen in der Ukraine und im Nahen Osten ihre Angehörigen verlieren, ihr Zuhause zerstört wird, sie obdachlos werden und fliehen.

Derweil haben wir uns noch in der Herbstsession darüber gestritten, ob wir künftig den Schutz der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten bei der Ausfuhr von Schutzmaterialien nicht höher gewichten sollten. Namentlich ging es darum, Schutzwesten in die Ukraine zu schicken. Leider sagte eine Mehrheit im Ständerat vorab aus neutralitätsrechtlichen Überlegungen Nein dazu.

Für mich sind damit viele Fragen unbeantwortet: Wir liefern nämlich heute bereits Minenräumgeräte in die Ukraine, um die Menschen nach einem Angriff zu schützen. Warum aber sind wir nicht bereit, sie mit Schutzwesten zu beliefern, damit sie sich präventiv schützen können? Wie absurd ist es, erst dann zu helfen, wenn der Schaden angerichtet ist? Warum liess der Bund nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 die Ausfuhr von mit Tarnfarbe bedrucktem Gewebe für Uniformen zu, obwohl davon ausgegangen werden musste, dass russische Soldaten solche Uniformen tragen würden? Warum war das neutralitätsrechtlich kein Problem? Warum wurde seitens Bund in den Jahren 2020 und 2021 die Ausfuhr von Schutzmaterial in die Vereinigten Arabischen Emirate bewilligt, obwohl diese in den Jemen-Krieg involviert waren? Warum war das neutralitätsrechtlich ebenso kein Problem? Warum konnte noch vor zehn Jahren der Personenschutz des russischen Präsidenten hundert Pistolen beschaffen, die heute in der Ukraine im Einsatz sind? Warum war auch das neutralitätsrechtlich kein Problem? Warum sind wir jetzt heute plötzlich päpstlicher als der Papst? Warum unterteilen wir die Schutzwesten in unserer Gesetzgebung in Dual-Use-Güter und besondere militärische Güter, wobei die einen Westen geringeren Schutz bieten als die anderen? Warum darf man Dual-Use-Schutzwesten liefern, aber Schutzwesten, als besondere militärische Güter bezeichnet, nicht? Wo im Neutralitätsrecht steht, dass diese Unterscheidung gemacht werden muss?

Wir sollten endlich damit aufhören, Haarspalterei zu betreiben. Wir haben einen klaren Aggressor. Wir haben ihn auch benannt. Unsere Neutralität muss im Dienst des Völkerrechtes und der Rechtsstaatlichkeit stehen.

Erfreulich hingegen verlief eine andere Debatte: Nach dem Nationalrat hat nun auch der Ständerat dem Bundesrat den Auftrag erteilt, die Ausbildung angehender Ärztinnen und Ärzte zu überprüfen und beim Numerus Clausus über die Bücher zu gehen. Zusammen mit den Kantonen soll unsere Landesregierung Massnahmen ergreifen, so dass die Zulassung von Studierenden zum Medizinstudium hauptsächlich auf Kompetenz- und Qualitätskriterien beruht. Zudem soll er vor allem in der Grundversorgung und im ambulanten Bereich für ein besseres Angebot an Studienplätzen und klinischen Praktika sorgen.

Der Numerus clausus prüft rein kognitive Fähigkeiten. Die braucht es ohne Zweifel, sie reichen aber bei Weitem nicht aus, um die Eignung eines jungen Menschen für das Medizinstudium abzuklären. Eine Ärztin muss mindestens ebenso sehr soziale und kommunikative Kompetenzen haben. Es braucht die einfühlsame und klare Kommunikation mit Patienten, mit Angehörigen, mit Kollegen. Medizinische Informationen müssen auf verständliche Art vermittelt werden können, damit Patienten fundierte Entscheidungen über ihre Behandlungen treffen können. Es braucht Teamfähigkeit in Zusammenarbeit mit mit dem Pflegepersonal, Therapeuten und Fachärztinnen. Generell wird sehr viel Empathie benötigt. Bei einem Numerus clausus wird dies alles leider überhaupt nicht geprüft.

Ein Arzt muss überdies auch über die notwendige Belastbarkeit und Resilienz verfügen. Wie geht man mit einer Situation um, in der ein Patient im Sterben liegt? Wie arbeitet man unter hohem Druck noch immer effektiv, und wie hält man dies alles aus? Auch das wird mit dem Numerus clausus nicht geprüft. Schlussendlich werden nicht zuletzt organisatorische und administrative Kompetenzen benötigt. Ein sinnvolles Zeitmanagement ist erforderlich, man muss Berichte schreiben, dokumentieren können – auch das wird bei einem Numerus clausus nicht geprüft; eine erfolgreiche Ärztin muss aber über all‘ diese Kompetenzen verfügen. Der Numerus Clausus ist jedoch viel zu einseitig und bildet die erforderlichen Kompetenzen und Qualitäten nicht ab. Neue Massnahmen müssen ergriffen werden.

Vor Studienantritt braucht es zum Beispiel ein längeres Praktikum, sodass die Eignung eben im Detail geprüft werden kann. Umgekehrt würden die angehenden Studierenden dann eben auch merken, ob das wirklich der Beruf ist, den sie später ausüben möchten. Heute ist es nämlich immer noch so, dass sehr viele jungen Menschen, die ein Medizinstudium absolvierten, schlussendlich in anderen Berufsfeldern aktiv sind. In der Schweiz haben wir einerseits zu wenig Studienplätze. Wir müssen laufend Leute aus dem Ausland beiziehen. Andererseits haben wir gleichzeitig das neue Phänomen, dass unsere jungen Leute ins Ausland abwandern, um dort ein Medizinstudium zu absolvieren. Das alles kann es nicht sein. Ich bin froh, dass der Handlungsbedarf endlich erkannt wurde!

 

Dieser Text ist am 8. Oktober 2024 als «Brief aus Bern» im Willisauer Bote erschienen.